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Crossen – das Schlachtfeld der Widerstände oder: die Realität des Querfeldein

Das ist beim Crosser nicht der Fall. Hier geht es ohne Federung über Stock und Stein. Auffällig ist zumindest für den klassischen Straßenradler ein interessantes Phänomen:



 

Der Wald als Feind, den es zu bezwingen gilt



Aus der Sommersaison ist man es in unseren Breitengraden gewohnt, auf ziemlich gut asphaltierten Straßen zu fahren. Schlaglöcher oder sonstige Unebenheiten sind eine Seltenheit, der Rennradler gleitet fast schwerelos über die Straßen.

Genau diese Erfahrung macht der Crosser in Herbst und Winter zunächst auch. Normalerweise hat niemand einen Wald direkt vor der Tür, so gilt es, den ein oder anderen Kilometer abzuspulen, bevor man ihn erreicht. Und das: ähnlich wenig widerständig wie bei einer klassischen Ausfahrt, denn der Crosser läuft nicht viel schwerer als ein Straßenrennrad.

Im Wald sieht das hingegen ganz anders aus. Wegen der mangelnden Federung wird man zunächst einmal von der Wucht des Geschehens überrascht. Die Schlaglöcher, Wurzeln und Steine schlagen ziemlich ungebremst auf den eigenen Körper durch, ja ein. Die Tachoanzeige fällt bedenklich, bei gleichem Krafteinsatz. Eine erste Zumutung: der Wald stiehlt mir sowohl den Raum, den ich sonst zusätzlich durchmessen hätte und die Zeit, die jetzt gnadenloser heruntertickt – schrecklich: weniger Raum in mehr Zeit. Mir werden Möglichkeiten genommen.



Kapitulation




Gut, daran muss man sich gewöhnen, denkt sich der Crosser. Im Wald kann man keinen Stunden-Schnitt fahren, der dem eines Zeitfahrens auch nur annähernd gliche. Und so schleicht sich eine Gewöhnung an den Widerstand ein. Das ist ein zunächst kontinuierlicher Prozess des Hinnehmens, ja der Kapitulation vor den Elementen und ihrer Unausweichlichkeit. So sind erst einmal die Tugenden der Gleichmut und Gelassenheit gefragt. Andere Funktionalitäten und Schönheiten haben zu überwiegen. Der Radsportler kann sich dem Luxus hingeben, nicht wieder über die gleichen Strecken zu fahren wie im Sommer. Bäume rauschen vorbei, der Duft des Waldes, Kurven sind konzentrierter zu nehmen, das trainiert auch diese Fähigkeiten für die Sommersaison. Der Wald bietet Vorzüge. Aber seine Wege sind eben uneben.



Vertragsbruch: Konflikt und Kriegserklärung




Und so erzeugt die äußerliche Widerständigkeit im Laufe der Zeit auch inneren Widerstand. Eine seltsame Transformation greift zu: der Kapitulationswille schwindet, im Gleichschritt verschwinden auch Gleichmut und Gelassenheit. Durch die permanenten Angriffe, die permanent ungefederten Übergriffe der Hindernisse auf den Körper wächst eine Wut, sie kocht peu à peu hoch. Der auf- und abspringende Lenker donnert unablässlich und ungefedert in alle Gelenke, von den Händen über die Ellenbogen bis zu den Schultern. Ich befinde mich auf einer aggressiven Rüttel-Maschine, was will sie?

Der Wald bleibt kein hinnehmbarer Naturgegenstand, sondern der Sportler unterstellt ihm durch dessen ständigen Übergriffe Vorsatz, er wird zur antagonistischen Person. Die Rüttelei mutiert zur Schüttelei, so wie jemand einen Ermahnten brüsk bei den Schultern nimmt, um ihn durch diese Schüttelei zu etwas zu bewegen, das er nicht will. Hier ist es die widerspenstige Botschaft des Bodens: Sieh ein, dass du den Kampf gegen mich verlieren wirst.

Doch der Crosser reagiert: Die innere Widerständigkeit richtet sich jetzt immer weiter als Wut gegen ihn. „Du bezwingst mich nicht“, spreche ich mir Mut zu. So wird der Waldboden in einen mich motivierenden Feind verwandelt, gegen den es anzukämpfen gilt. Der Wald wird zum Schlachtfeld, zum Schlachtfeld der Widerstände, gegen die ich mich mit aller Entschlossenheit wehre.

Physisch zeigt sich diese Wut im Druck: die sich-auflehnende Spannung im ganzen Körper, jedem Muskel, das wütende Zusammenbeißen der Zähne bis zum plötzlich wahrgenommenen Verkrampfen der Kaumuskulatur; der erhöhte Druck auf den Pedalen. Denn genau das ist die Waffe des Crosser, der Weg zum Sieg zeigt sich ihm als rollende Ballistik, ja nach und nach als rasende Ballistik. Wenn ich schneller werde, trotze ich den Zumutungen des Geländes. Wenn ich schneller werde, gewinne ich gegen das ständige Trommelfeuer der waldbodenbedingten Unebenheiten. Ich gewinne diesen Krieg zwischen feindlicher Natur und der sich gegen sie auflehnenden Macht: mein Crosser und ich. Den Konflikt gilt es mit gewaltsamen Mitteln zu lösen, ich rüste auf, indem ich dem Feind den Druck auf den Pedalen entgegensetze. Der Druck setzt sich über das Rad fort und die Angriffe kehren sich um. Jetzt hämmert mein Rad mittels bestollter Reifen auf den Boden ein, es nimmt nicht mehr passiv hin, sondern wird zum gefechtsbereiten Akteur, zur gefechtsdurchführenden Waffe dieses Konflikts. Es läuft, Schlag auf Schlag. Die Überlegenheit ist nun auf meiner Seite. Unversehrtheit keine Option mehr. Keine Gnade, keine Gefangenen. 

Die Transformation ist kein bewusster Prozess. Ob und welche Charakterdispositionen dafür zuständig sind, ist völlig unklar. Aber es geschieht wie von selbst. Erschreckt stelle ich erst nach einiger Zeit der Schlacht fest, dass eine Schlacht stattfindet. Und auch bewusst beschließe ich: Auch die will ich, auch die werde ich nicht verlieren. Und so entsteht ein phänomenaler Sog, die Permanenz eines Kampfes, die die eigenen körperlichen Grenzen überschreiten lässt: denn im Krieg gilt es, das Physische gänzlich in Anschlag zu bringen, die Gewalt richtet sich gegen die Körper.



Waffenstillstand: Rückweg




Erst wenn ich den Wald verlasse und das Trommelfeuer der mehr oder minder großen Hindernisse hinter mit lasse, wird der Waffenstillstand erklärt. Jetzt wird die Unterschiedlichkeit der Ausfahrt gegenüber dem klassischen Radfahren auf der Straße klar: Crossen ist Intervalltraining schlechthin, ein spontanes Aufbäumen gegen die Widerstände, ein ebenso spontanes Abducken und temporäres Entspannen, wenn es streckenweise glatter läuft oder bergab geht. Diese Schlacht ist Geschichte, die nächste folgt sodann.



Fazit




Insgesamt zeigt sich damit ein seltsames Phänomen: Die „Erfahrung physischer Gegenstände in der manipulativen Zone“, also die Erfahrung des Durchgeschüttelt-Werdens beim Crossen im Wald, „gestattet“ mir den „‘Grundtest aller Realität’, nämlich die Erfahrung des Widerstandes.“[2] Dieser Widerstand ist der Beweis. Es gibt etwas außerhalb von Traum, Erinnerung und Wunschphantasie: die Widerständigkeit des Waldbodens und der Kampf gegen ihn. Radsport wird zum Realitätsnachweis. Mit Konjunkturen. Erst macht sich der Widerstand bemerkbar, ich kapituliere. Dann die unbewusste und bewusste Auflehnung, der Übergang in das Gefecht. Und schließlich verschwindet diese Realität, ich rase traumhaft über ihn – über den Waldboden, über Stock und Stein. Und die Realität mutiert zugleich wiederum zum rasenden Traum. 



Dominik Paß

(Dezember 2010)



Literatur:



Schütz, Alfred und Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt. Band 1. 5. Auflage. Frankfurt am Main, Suhrkamp 1994.

[1] Schütz / Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, Band 1, S. 69.

[2] Schütz / Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, Band 1, S. 69.

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